Was bleibt vom freien Willen, wenn Maschinen unsere Muster besser verstehen als wir selbst? Daten spiegeln uns – aber sie sind kein Spiegelbild, sondern ein Profil. Und wer in Profile denkt, hört irgendwann auf, Menschen zu sehen.
1. Ursprung des Datenschutzes: Misstrauen gegen den Staat
Bevor Datenschutz ein juristisches Konzept wurde, war er ein politisches Misstrauen gegenüber dem Staat, der seine Bürger kennt, beobachtet und kontrolliert. Der moderne Datenschutz ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis historischer Erfahrungen mit Überwachung, Willkür und Machtmissbrauch. Wer seine Herkunft kennt, versteht besser, warum Europa beim Datenschutz andere Maßstäbe anlegt als der Rest der Welt.
1.1 Fouché und die Geburtsstunde des Polizeistaats
Joseph Fouché war kein Techniker, sondern ein Meister der Kontrolle. Als Polizeiminister unter Napoleon organisierte er Ende des 18. Jahrhunderts ein landesweites Spitzelsystem, das nicht auf Gesetze, sondern auf Loyalität, Angst und Datensammlung beruhte. Er erfasste politische Gegner, Schriftsteller, Freimaurer, Geistliche: jeder war potenziell verdächtig. Was Fouché schuf, war mehr als ein Polizeiapparat: Es war der erste systematische Überwachungsstaat Europas.
Der Begriff «police politique», der unter Fouché geprägt wurde, beschrieb nicht nur eine Institution, sondern eine Haltung: Jeder Bürger ist eine potenzielle Bedrohung für die Ordnung und deshalb zu überwachen. Seine Beamten führten Akten über Personen, Bewegungen, Meinungen und Korrespondenzen. Spitzel in Kaffeehäusern und auf Marktplätzen meldeten Auffälligkeiten. Die Überwachung betraf nicht nur Kriminelle, sondern vor allem politisch Unbequeme.
Diese frühe Form der Totalerfassung hatte keinen technischen Unterbau, aber einen klaren Zweck: Kontrolle durch Information. Und sie wirkte nicht nur im napoleonischen Frankreich, sondern als Vorbild für viele andere Regime. Das Prinzip: Wer den Informationsfluss kontrolliert, kontrolliert die Gesellschaft. Der Gedanke, dass ein Staat zu viel über seine Bürger weiß, war geboren und das Misstrauen dagegen wurde zum kulturellen Erbe.
1.2 Vom Überwachungsapparat zur informationellen Selbstbestimmung
Im 19. Jahrhundert übernahmen viele europäische Staaten das Modell der politischen Polizei. Metternich in Österreich, Preußen unter den Hohenzollern und das zaristische Russland setzten auf präventive Kontrolle durch Akten, Informanten und Geheimdienste. Der Bürger wurde nicht mehr nur regiert, sondern verwaltet: als Objekt staatlicher Statistik, Registrierung und Beobachtung. Die Frage, ob der Staat alles wissen darf, stellte sich jedoch noch nicht als Rechtsproblem, sondern als politische Grundsatzfrage.
Erst mit der Technisierung der Verwaltung etwa durch Meldeämter, Fingerabdruckdateien oder Volkszählungen wurde deutlich, wie leicht sich Informationen zentral erfassen und auswerten lassen. Der technische Fortschritt ermöglichte eine neue Tiefe der Kontrolle. Gleichzeitig wuchs der Widerstand: liberale und demokratische Bewegungen verlangten Schranken für den Staat. Freiheit bedeutete nicht nur Schutz vor Gewalt, sondern auch Schutz vor Durchleuchtung.
Im 20. Jahrhundert verdichtete sich dieses Misstrauen zur Forderung nach einem neuen Grundrecht: der informationellen Selbstbestimmung. Das berühmte Volkszählungsurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1983 erkannte erstmals an, dass jeder Mensch das Recht hat, über seine Daten selbst zu bestimmen, wer was wann wissen darf. Das war mehr als ein juristischer Fortschritt. Es war eine Reaktion auf eine Geschichte, in der Datenmacht zu Staatsmacht geworden war.
1.3 Warum Datenschutz in Europa ein Abwehrrecht wurde
Der europäische Datenschutz unterscheidet sich grundlegend vom amerikanischen Modell: In Europa schützt er das Individuum gegen den Staat und gegen Konzerne, in den USA dagegen eher den Konsumenten im Markt. Diese unterschiedliche Haltung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis historischer Traumata: Nationalsozialismus, Gestapo, Stasi. Millionen Menschen wurden verfolgt, weil ihre Daten, etwa über Religion, Herkunft oder politische Meinung, bekannt waren.
Datenschutz in Europa ist deshalb nicht nur ein Instrument der Verbraucherpolitik, sondern ein Ausdruck von Grundrechten. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist das sichtbarste Ergebnis dieser Tradition: Sie versteht den Menschen nicht als Datensatz, sondern als Rechtsträger. Jede Verarbeitung von Daten muss begründet, nachvollziehbar und freiwillig sein – andernfalls ist sie unzulässig. Das ist keine technokratische Regelung, sondern ein zivilisatorischer Anspruch.
Die kulturelle Tiefenprägung Europas ist entscheidend: Man traut dem Staat nicht blind, sondern verlangt Transparenz, Rechenschaft und Kontrolle. Datenschutz ist das Gegenmodell zum allwissenden Staat, ein Schutzschild für die Privatsphäre, das in Gesetzesform gegossen wurde. In dieser Haltung unterscheidet sich Europa deutlich von anderen Weltregionen und daraus leitet sich auch sein Anspruch ab, globale Standards zu setzen. Nicht aus Arroganz, sondern aus Erfahrung.
